Dr. Bernd Fetzer Pfarrer Wenn alles passt und nichts mehr geht?! Unterbrechung als Programm. Vorträge, Seminare und Texte
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Wider die Allmacht der Wissenschaften - Recht des Alltages auf einen Zwischenruf!

Thoman Kuhn

Wider die Allmacht der Wissenschaft - Recht des Alltages auf einen Zwischenruf!

 

Schon früh in meinem Leben hat mich ein bemerkenswerter Lehrer ermutigt, mich auch und gerade als "Nichtfachmann" in Diskurse der Ökonomie, des Rechts, der Philosophie, kurz in alle sogenannten Wissenschaftsbereiche einzumischen. Seine Aufforderung nährte sich aus dem grundsätzlichen Misstrauen gegen den alleinigen Wahrheitsanspruch der Wissenschaft und der daraus folgenden Trennung in Wissenschaftler und "Alltagsmenschen". Der Alltag und die Menschen kommen in einer solchen Sichtweise überwiegend defizitär in den Blick. Wenn heute wieder Menschen auf die Straße gehen und für eine „unabhängige“ Wissenschaft demonstrieren, müssen diese völlig verdrängen, dass Wissenschaft nicht in einem isolierten Vakuum stattfindet, sondern schon immer interessengeleitet war und ist. Müssen aber auch verdrängen, dass es „Alltagsmenschen“ waren, die die Anti-Atomkraft-Bewegung getragen haben und immer mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit konfrontiert waren. Als der 1968 gegründete „Club of Rome“ seine „Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte, wurden Buch und Mitglieder oftmals mitleidig belächtet und die wissenschaftliche Unhaltbarkeit ihrer Thesen proklamiert. Wer sich dem gängigen Wachstumsparadigmas nicht unterwarf, wurde aus der „science community“, der Wissenschaftsfamilie, ausgeschlossen. Der ganze große Bereich der „Alternativmedizin“, dem man sicherlich kritisch gegenüberstehen darf, hat als Alltagsbewegung außerhalb der akademischen Medizin, zumindest für eine Verunsicherung gesorgt. Sie hat vor allem an dem medizinischen Grunddogma, der Lebenserhaltung um jeden Preis, gerüttelt. Dass heute verstärkt um passive und aktive Sterbehilfe gestritten wird, dass juristische Regeln hier neu geschrieben werden müssen, ist ein wesentlicher Ertrag des Diskurses zwischen Wissenschaft und Alltag. So macht sich gerade am Ende des Lebens, am Tode fest, dass der Alltag sein Recht auf den eigenen Tod gegen den wissenschaftlichen Betrieb einklagen muss.

Es geht in dieser ganzen Diskussion nicht um die Frage der Wahrheit oder Unwahrheit, um den Kampf zwischen Faktischem und Postfaktischem, sondern um die Begriffe selbst. Die Wahrheit ist eben keine Entität (Wesenheit), die als erstrebenswertes Ziel außerhalb des gesellschaftlichen Diskurses fest und unveränderbar liegt (dies war die Vorstellung eines Karl Popper mit der Vorstellung einer fortwährenden Approximation an die Wahrheit), sondern ist selbst Teil des Diskurses und aushandelbar. Die Wahrheit ist ein interessengeleiteter Begriff und aus seinem gesellschaftlichen Kontext nicht zu lösen. „Wissenschaft ist ein Narrativ unter Vielen und besitzt keinen Vorrang vor anderen Wissenskulturen“ (Wolfgang Freitag). Die Annäherung von Wissenschaft und Alltag (auch eine Wissenskultur) die durch die Dekonstruktion der Wahrheit hervorgerufen wurde, führt bei zwei Schülern von Karl Popper zu einer Aufwertung des Alltagsbereichs. Feyerabend und Kuhn sehen den wissenschaftlichen Fortschritt nicht mehr in der Anhäufung von Wissen und einer Annäherung an die Wahrheit, sondern in Eruption oder Revolution, die aus dem Diskurs zwischen den Wissensbereichen, Wissensschaft und Alltag erwachsen.                  

Je problematischer aber der Begriff der Wahrheit in der Wissenschaftstheorie wurde, desto kleiner wurde die Differenz zwischen Wissenschaft und Alltag und beide fanden sich auf der Seite der „Suchenden“ wieder. Die Wahrheit war dem Wissenschaftsbereich entglitten.

Doch im Zuge einer immer weiteren Differenzierung baute sich der Wissenschaftsbereich mit Spezialsprachen, mit Sonderzeichen, mit einer um sich greifenden Dogmatisierung seinen verlorenen Olymp wieder auf.

 

Am deutlichsten wird dies in meiner Denkheimat der Theologie. Hier klafft eine deutliche Lücke zwischen dem was die Gläubigen glauben und dem was Dogmatik und kirchliches Lehramt zu glauben aufgeben. Hatte die alte Kirche mit Sakramentenentzug, Rauswurf, Schisma und dem Sündenbegriff noch allerhand Handwerkszeug zur Disziplinierung in der Hand, ist dies heute deutlich schwieriger. Was bleibt ist die Kluft zwischen wissenschaftlichem Anspruch der Kirche und dem Synkretismus der Gläubigen. Dabei verweist der „zusammengestückelte“ Glaube  strategisch auf eine Überwindung dieser Kluft. Denn was hier zusammengestückelt scheint, ist doch nur der Versuch die Krisenanfälligkeit  des Lebens mit kulturell verankerten christlichen Glaubensätzen in Verbindung zu bringen. Dies aber so, dass das jeweilige Leben profitiert und nicht die Theologie oder die Kirche. Denn in dem Stückwerk der Gläubigen bleiben die Theologie und die Kirche auf ihre dienende Funktion festgelegt. Volksfrömmigkeit, oder wie es das 2. Vatikanum und Karl Rahner formulieren, die Leutetheologien, erweist sich als äußerst widerständig gegen die Selbstgenügsamkeit der Kirche. Hinzu kommt eine, durch die  Globalisierung geförderte Nähe zu anderen Religionsentwürfen, die auch in der herrschenden Theologie zu einem breiten Diskurs der Weltreligionen herausfordert.

So betrachtet sind „Leutetheologien“ – um diesen, wie ich finde, unglücklichen Begriff zu gebrauchen-  nicht grundsätzlich defizitär. Dies sind sie nur unter der Prämisse, dass Lehramt und wissenschaftliche Theologie näher an der Wahrheit – und das heißt doch theologisch wohl an Gott – seien. Wer aber die Dichotomie von Oben und Unten, von Höher und Niedriger, von Wissenschaft und Alltag aufgibt, gewinnt einen gleichberechtigten Gesprächspartner, der sich im besten Falle als ebenfalls Suchender erweist. So muss sich die wissenschaftliche Theologie vom Alltag sagen lassen, dass sie zuallererst eine dienende Funktion hat. Der Alltag von der wissenschaftlichen Theologie, dass Alltag immer ein „Mehr“ bereithält und man nicht im „Man“ ersticken muss und darf.

 

Der Medizin muss und darf gesagt werden: „life is not existence!“ Neben die reine Anzahl der  Jahre muss die Qualität des Lebens in der Medizin neu zu Gehör gebracht werden und in den Diskurs um aktive und passive Sterbehilfe eingebracht werden.

 

Was geschehe, wenn die Psychologie auf die krankheitswertigen Begriffe wie Depression, ADHS oder Alzheimer verzichten würde und die vom Alltag benützten Begriffe wie Schwermut, traurig, bewegungsaktiv, vorlaut oder vergesslich und verwirrt, benützen würde? Wenn der Alltag seine Orte und Plätze der kleinen oder größeren Katastrophenverarbeitung neben der Klinik zu Gehör brächte?

 

Es wäre viel zu tun, viel zu hören vom jeweils anderen. Einmischung tut Not.

 

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