Jeden Dienstag stehe ich mit vielen anderen Marktlern auf dem Wochenmarkt in Seefeld und verkaufe neben Wurst und Nudeln seit einigen Monaten auch viele verschiedene Brote. Das internationale Flair, die kulturelle Vielfalt und das Sprachengewirr machen dieses kleine Olympiastädtchen zu einem Markthighlight jeder Sommerwoche. Fleißig habe ich all die Zutaten wie Körner, Mehle und Arbeitsschritte auswendig gelernt und mir die Worte für Dinkel, Roggen, Mischbrot und Vollkorn in Englisch, Französisch, Italienisch und sogar in Arabisch aufgeschrieben und mit „Google“ an der Aussprache gefeilt. Doch trotz aller Anstrengungen, der Umsatz blieb bescheiden. Die Güte meiner Produkte schien nicht zu überzeugen und meine neuen Sprachkenntnisse liefen ins Leere.
Neben mir, dem evangelischen Pfarrer, der kleinlich korrekt seine Zutaten auswendig gelernt hat und Mann/Frau manchmal ungefragt aufklären will, steht die katholische Küsterin aus dem Zillertal, die ihren Schnaps und ihren Honig mit Geschichten anreichert. Ihr Stand ist vom Morgen bis zum Abend immer umlagert und alles findet reißenden Absatz. Der Unterschied ist schnell klar. Ich versuche Produkte zu verkaufen und lobe den Standard und das Vollbringen; sie aber erzählt auch die Geschichten der Pannen und dass selbst Öko-Orangen vor Katastrophen nicht gefeit sind. Es sind Geschichten, wie aus einem völlig misslungenen Apfelstrudel eines Familienfestes das Grundprodukt für einen erstklassigen Likör wird. Es sind Geschichten von Pannen und deren Behebung, es sind Geschichten von Katastrophen und deren Überwindung. Was die Kunden am Ende mitnehmen, ist nicht nur ein hochwertiges, sondern ein um einen Mehrwert angereichertes Produkt. Denn Geschichten leben länger - viel länger. Der Schnaps ist schon längst getrunken, die Wurst gegessen, die Geschichten aber sind noch lebendig.
Gute Geschichten, so habe ich von meiner Nachbarin gelernt, sind nie linear. Sie beschreiben nicht die Kontinuität von der Aufhebung der Fehler des Lehrlings durch den Meister, nicht die Bestätigung des Wissens gegenüber dem Unwissen. Sie sind voll von Überraschendem. Gute Geschichten tragen eben immer Beides in sich: Partikel vom Karfreitag und Partikel vom Ostergeschehen. Es gibt keine Kontinuität zwischen der Katastrophe und dem wirklich Neuen, kein „Weiter so“ gegenüber der Unterbrechung, keine Identität gegenüber der Zerbrechlichkeit, keine Ganzheit gegenüber dem Fragment (Henning Luther).
Hier auf dem Markt stehen sich die Beide gegenüber. Einmal die Geschichten des handwerklichen Könnens, den guten Zutaten und dem exakt einzuhaltenden Herstellungsverfahren. Die linearen Geschichten, die die Güte und die Zubereitung preisen und die die siegreiche österliche Auferstehung gegen jede Abweichung behaupten. Der Karfreitag ist nicht eine wirkliche Bedrohung, sondern nur aufzuhebende Durchgangsstation.
Auf der anderen Seite die modernen Märchen- und Wundererzähler, für die die Abweichungen notwendige Geburtshelfer für Neues sind. Es ist das Wissen um die Zerbrechlichkeit menschlichen Tuns und Denkens, die aller voreiligen Selbstzufriedenheit entgegensteht. Sollte der Umsatz am Ende entscheiden, die Märchenerzähler wären hier klar im Vorteil.
Auch bei meinem Brotverkauf erwiesen sich die brüchigen Geschichten als besonders vorteilhaft und ich wäre zufrieden, wenn da nicht dieses eine Brot wäre. Es ist das Dinkelbrot, welches schöner und geschmacklich besser nicht gemacht werden könnte. Millimetergenau vermessen, rund und mit einer glatten glänzenden Oberfläche versehen. Nur ……… dieses Brot will keiner haben. Es ist das Brot, das sich durch seinen Namen deutlich an die katholische Kirche bindet. „Hildegard von Bingen“, so wurde dieses Brot vom Bäcker getauft und als solches habe ich es angeboten. Noch vor zwei Jahren war das „Hildegard-Brot“ ein Renner, war vor allen anderen Broten ausverkauft, weil neben der Heiligen auch noch die Heilerin am Brot klebte. Doch die „Heilerin“ hat sich vom Brot entfernt, hat das „Heilige“ hinter sich gelassen und ist auch auf dem Markt zu den Kräuterschnäpsen, den Likören und den Tees gezogen. Die Heilige steht jetzt ohne die Heilerin dicht neben einer Kirche, die angeschlagener nicht sein könnte. Die „heilige katholische Kirche“ ist in Verruf geraten und das Heilige und die Heiligen sind im Sumpf des Missbrauchs mit untergegangen. Alles was sich zu nahe an diesem Strudel von Macht, struktureller und sexueller Gewalt befindet, wird nur noch von ferne betrachtet und weitestgehend gemieden. Die Kirche und ihr Tun sind auf der Agora, inmitten des Alltagstrubels, angekommen und können hier nicht mehr ausweichen. Hier muss sich ihr Tun rechtfertigen und ist allen Vorbeigehenden und Vorbeiglaubenden ausgesetzt. Hier auf dem Markt ist die Kirche ungeschützt, weil die Mauern und Festungen einer das Heil verwaltenden Kirche zerbrochen sind. Mitten zwischen der Wurst, dem Käse und dem Brot wird Kirche wieder zu einer Befragten und das außerhalb des sicheren Horts einer wissenden Dogmatik. Nur ein Angebot unter Vielen. So ist die Agora von Seefeld Anlass für ausführliche und lange Gespräche, die über das Brot nahtlos zum „Heiligen“ und zu allen Katastrophen unserer Kirchen führen. Doch alle Gespräche zeigen, dass sich diese „Krise“ nicht mehr in den Innenhöfen der Kirchen lösen lässt, nicht durch innere Machtverschiebungen, nicht durch Strukturreformen und nicht durch interne Aufklärungsabsichten. Der Markt und die Geschichte des Brotes zeigen recht deutlich, dass das Innen seine Macht verloren und das Außen sich nachhaltig verändert hat. Das veränderte Außen ist durch das Innen nicht mehr zu erreichen und vor allem, es ist nicht mehr zurückzuholen.
Meine katholische Nachbarin hat es mir erklärt! Ein Narrativ, dass an der linearen Rückführung des Außen in das Innen, an der schlichten Aufhebung einer oder mehrerer Störungen arbeitet, wird auf dem Markt unterliegen. Doch wie müsste ein Narrativ aussehen, das die Unterbrechung ernst nimmt und eine Neukonstellation durch eine „nichtakademische und schwache“ Theologie wagt? Denn, das hat Karl Rahner seiner Kirche ins Stammbuch geschrieben: wer sich hörend auf dieses “Außen” einlässt und nicht gleich verdammend ausgrenzt, riskiert auch sein eigenes Selbstverständnis.
Doch auch hier helfen die Gespräche am Markttisch weiter. „Ich kann auch an der Kirche vorbei glauben“! „Vorbei glauben“, dieser Satz lässt mich aufhorchen und hebt sich angenehm vom einem „ohne Kirche glauben“ ab. Das Heilige ist nicht mehr im Besitz der Kirche und will auch dort nicht mehr gefunden werden. Hier wird selbstbewusst eine Suchbewegung unternommen, die sich auf die Vermutung stützt, dass das Heilige nicht mit dem unheiligen Gebaren der Kirche verschwunden ist, sondern als Geheimnis jenseits von ihr existiert. Das Selbstbewusstsein dieser Suche verdankt sich der Hoffnung, dass neben und hinter der Kirche nicht nur die unbedeutenden Brotsamen zu finden sind, sondern dass sich dort Wesentliches finden lässt. Es waren Jürgen Moltmann und J.B. Metz die ihren Kirchen immer wieder den Weg nach „Draußen“ lehrten. Denn „das Symbol des Kreuzes weist hin auf den Gott, der nicht zwischen zwei Leuchtern auf einem Altar, sondern zwischen zwei Räubern auf der Schädelstätte der Verlorenen vor den Toren der Stadt gekreuzigt wurde.“[1] Draußen, so wird hoffnungsvoll vermutet, draußen kann man auf etwas treffen, was zwar innerhalb der Kirche nicht festgehalten werden kann, von dem aber Kirche und Gottesvolk gleichermaßen angesprochen werden.
Und „Draußen“ ist es dann auch geschehen und hat zumindest für das Brot eine Lösung bereitgestellt. Es war der neue Geselle in der Bäckerei, dem der Fehler unterlief. Zu lange gegangen war der Teig und im Ergebnis ist die feine und glatte Oberfläche der „heiligen Hildegard“ aufgebrochen. Aufgebrochen und nicht wieder zu verschließen, hat das Brot sein Innerstes gezeigt und preisgegeben. Jedes Brot war anders gebrochen, jede Kruste zeigte ihr eigenes Bild. Dort wo vorher Einheitlichkeit, die „Katholizität des Brotes“ gewollt und als nicht hintergehbares Ziel formuliert war, ist jetzt kein Brot dem anderen gleich. Die Vielfalt hat sich als „Störung“ in den Produktionsprozess eingeschlichen. Ein zu langer gegangener Teig entwickelt sich zu einer Eruptivkraft, der die Kruste sprengt und sich am Markt in einem neuen, gebrochenen Kontext behaupten muss. Nun ist das sichtbare Innere, nun sind die Risse und Brüche nicht mehr zu verdecken, sondern sind angewiesen auf den Blick der Käufer und auf deren Solidarität mit der verwundeten und gebrochenen Kruste. Wer an der Kirche vorbei glaubt, wendet sich nicht ab, sondern riskiert im Vorbeigehen auch einen Blick auf den gärenden Teig, der die Kirche wie den Teig ganz durchsäuert, denn „Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig (Mt.13,33)“. Der Teig bricht die Kruste auf, das Himmelreich die Kirche. Es ist bei Beiden eine Nacktheit, die das Innen bloßlegt und sie in ihrer ganzen Verletzlichkeit und Schwäche zeigt. Das „Draußen“ wie das „Drinnen“ stehen sich nicht mehr als Opponenten gegenüber, sondern verbünden sich zu einer Solidargemeinschaft der Schwachen. Was die „Draußen“ immer schon wussten, wird durch die Eruptivkraft des Sauerteiges auch dem „Drinnen“ laut gesagt. Die Opfer des Drinnen haben sich durch das Aufbrechen Gehör verschafft und sind auch für die „Vorbeiglaubenden“ sicht - und hörbar geworden. Die Zukunft der Kirche wird sich nicht im Innenhof entscheiden, sondern in der prekären Diskussion an den Rändern. Dort wo die sichtbaren Verletzungen ein gemeinsames Gespräch erst ermöglichen, dort wo die Kruste geplatzt und das Innen sich zeigt. Denn wer seine Verletzungen und seine Schwäche so offensichtlich macht, muss dem Draußen ein hohes Maß an Vertrauen entgegenbringen.
Das Brot jedenfalls, die „Hildegard von Bingen“, war an diesem Tage schnell verkauft. Es bedurfte nicht einmal einer besonderen Geschichte, denn die Risse und Beulen der Kruste luden alle ein, eigene Narrative zu bilden. Mein Bäcker aber hat die Wunde ganz schnell wieder geschlossen. Noch genauer wurden nun die Gär- und Backzeit kontrolliert, um am Ende wieder ein störungsfreies Brot auf den Markt zu bringen. Ich befürchte, dass auch der quellende kirchliche Sauerteig (Macht- und sexueller Missbrauch, Synodaler Weg, Amazonassynode, Maria 2.0, um nur einige zu nennen) einer Katholizität geopfert wird, die wieder eine saubere und verschlossene Kruste zum Ziel hat, die nicht Vertrauen wagt, sondern Zustimmung fordert. Das Heilige aber ist ausgezogen, hinaus vor die Tore der Stadt, dort wo es zwischen den Räubern wieder entdeckt werden muss. Dazu aber müssten die Tore und die Fenster der Kirche weit geöffnet werden, müsste der Sauerteig wie in den Broten, die Kruste und alle Riegel sprengen, damit „Nachfolge“ mehr ist als das risikolose „Nacherzählen“ im Innenhof, sondern wieder riskanter Weg nach Draußen ist.
Meine katholische Nachbarin auf dem Markt hat es mir erklärt: störungsfreie lineare Geschichten werden schnell vergessen und der Ostersonntag wird ohne die Störung des Karfreitages zu einem Mythos. Störungen und Unterbrechungen aber legen die ganze Verletzlichkeit eines Innen bloß und bleiben als Herausforderungen lebendig. Diese Blöße aber macht liebenswert und liebensfähig und zwingt Produkt und Kunde, zwingt Kirche und Volk Gottes zu neuen und gemeinsamen Narrativen, die die Blöße und die Verletzlichkeit zu kraftvollen Geschichten ausbauen, die am Ende auch auf der Agora gehört werden.
Wir hätten von meiner Nachbarin auf dem Markt in Seefeld eine Menge zu lernen!
[1] Moltmann, Jürgen: Der gekreuzigte Gott. Chr. Kaiser Verlag. München 1973. S. 42