Noch vor wenigen Jahren war ich im Gespräch mit Psychiatern vorsichtig, wenn es um das Thema „Depressionen“ ging. Ich war ja kein Psychiater und mein Respekt vor dieser Berufsgruppe und vor dem Leiden der Betroffenen war groß. So sprach ich nur leise von der „Wahrheit der Depression“, denn ich ahnte, dass mit dem Wort „Krankheit“ kaum etwas erklärt und noch weniger verstanden ist. Mir scheint, dass diese Wahrheit in der Beunruhigung der Normalität liegt und ein Bild von Welt und Mensch zeichnet, das zwar düster, aber durchaus wahrhaftig ist. Bilder von Versagen, von Not und Schmerz, vom Leiden an dieser Welt, von Kontingenz, von der Nichtplanbarkeit des Lebens, das so gar nicht in unsere gediegene Lebensvorstellung passen will und eben deshalb beunruhigt und wahr ist. Leise dachte ich dies, bis ich auf Menschen stieß, die meine Sicht teilten und vertieften. „ Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürften“. Dieser Satz von Romano Guardini zeigte, dass ich mit ihm und Sören Kierkegaard Verbündete gefunden hatte, die die „Schwermut“ aus der Klammer der „Krankheit“ befreiten, ohne ihr das Leiden zu nehmen. „Vom Sinn der Schwermut“ heißt das kleine Büchlein und meint dabei nicht, dass die Schwermut Sinn hat, sondern dass sie Sinn macht. Sinn schaffen, nach außen, verändern und Blicke schärfen. Aber auch ein gefährliches Unternehmen, denn wer sich der Kontingenz menschlichen Lebens dauerhaft aussetzt, wer diese nicht nur punktuell erlebt um sich dann wieder der Gleichförmigkeit der Konvention zu ergeben, wird den Schmerz als dauerhaften Wegbegleiter nicht mehr los. Was bleibt, ist eine Beunruhigung, die sich durch nichts beruhigen lässt. Die Psychiatrie wendet sich in ihrer Sicht dem Schmerz, der Beunruhigung zu, klassifiziert mit einer Diagnose und - was ihr anzurechnen ist – versucht Schmerz zu lindern und Beruhigung herzustellen. Michael Foucault nennt dies: die Geburt der Klinik! Die Beunruhigung ist zu einer zu behandelnden Krankheit geworden und nicht mehr produktiver Faktor im Prozess einer Störung allzu starrer Konventionen.
Möglich ist eine solche Haltung an einem Ort, wo Schmerz, Leiden und Beunruhigung nicht mehr grundsätzlich der „Krankheit“ zugeordnet werden, sondern wo all dies auch Befreiung und Veränderung andeutet. Dass Guardini und Kierkegaard im Raum der Kirche stehen, ist eben kein Zufall, sondern zeigt, dass dieser Boden fruchtbar ist um die Schwermut als konstruktive Beunruhigung zu fassen. Beide begreifen dabei das Christliche nicht als Therapeutikum – wie dies viele theologische Arbeiten zu diesem Thema tun – sondern als grundsätzliche Haltung, die auch das Christsein selbst betrifft. Die Differenz von Gott und Mensch ist nicht aufzulösen, sondern als schmerzliche Beunruhigung aufrecht zu erhalten. Diese innertheologische Beunruhigung bewahrt das Reden von Gott und Mensch vor der Starrheit dogmatischer Sätze und macht eine dauerhafte Entwicklung erst möglich. Ohne Beunruhigung wird das Christentum zu einer selbstgefälligen und selbstgenügsamen Institution, die der Gefahr der Hybris erliegt. Allerdings ist diese Beunruhigung auch ohne die Schwermut, den Schmerz nicht zu haben. Was aber an diesem neuen Ort, außerhalb von Psychiatrie und Psychotherapie, möglich ist, nämlich die Schwermut, Melancholie und Depression aus der Klammer der Krankheit zu befreien, setzt sich auch der Gefährdung aus selbst teilzuhaben an der produktiven Unruhe der Schwermut. Wer sich nicht auf die Dichotomie Krank-Gesund einlässt und die Beziehung von Arzt-Patient als unangemessen meidet, wird zu einer Kommunikation auf gleicher Ebene kommen. Es entwickelt sich so eine Haltung die prinzipiell damit rechnet, dass die schwermütige Unruhe auch wahrhaftig sein könnte.
Aber auch die Psychiatrie könnte von einem Diskurs auf dem Boden der Theologie profitieren. Die schier grenzenlose Ausweitung des ICD 10 ( Internationale Klassifizierung psychischer Krankheiten), die immer mehr alterstypische Veränderungen unter die Krankheiten subsummiert, die Trauerprozesse vereinnahmt und jede Abweichung unter den Verdacht einer beginnenden Störung stellt, könnte unter dem Blickwinkel der Beunruhigung auch die Potentiale hinter diesen Phänomenen sehen lernen. So könnten manche Einschränkung des Alters - wie z.B. Langsamkeit - wieder für den Weisheitsbegriff nutzbar gemacht werden. Langanhaltende Trauerprozesse würden so betrachtet, den Tod am Leben erhalten und ihn wieder in die Mitte des Lebens stellen.
All dies hat mich dazu ermutigt wesentlich lauter von der „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ der Schwermut und der Depression zu reden und die Beunruhigung als produktives Moment in Kirche und Gesellschaft zur Sprache zu bringen.