Weil es mir wichtig ist!
Israel und die Hamas
„Sie sind nun einmal im Spiel! Sie können nicht nicht wählen. Also los: Wofür werden sie sich entscheiden?“
Blaise Pascal, der dies schon 1670 geschrieben hat, steht Pate für viele der Stellungsnamen, die angesichts der schrecklichen Situation im Nahen Osten, der menschenverachtenden Aktionen der Hamas, dem Leiden und Sterben der jüdischen und palästinensischen Bevölkerung, das Zuschauen geißeln. Die Zeit der kühlen und vor allem der distanzierten Beobachtungen und Analysen von den Zuschauerrängen aus ist vorbei. „Sie sind nun im Spiel“ und sie sind aufgefordert sich zu positionieren.
Dieser Aufforderung zur Positionierung ist das gesamte theologische Feld nur verzögert nachgekommen. Doch ist diese Verzögerung keinesfalls defizitäres, weil mutloses Abwarten. Es gereicht dem theologischen Feld eher zur Ehre. Der Verzicht darauf einer „Lösungsversessenheit“ (Fulbert Steffensky) aufzusitzen, ist dem nachvollziehbaren Erschrecken geschuldet, das angesichts der Katastrophe notwendigerweise zunächst wort- und sprachlos bleiben muss. Was hier geschehen ist war singulär und kann deshalb nicht routinemäßig in lineare Handlungsabfolgen überführt werden. Die eingestandene Ohnmacht lässt nichts anderes zu. Alle wissende Schnellschreiberei wäre hier nicht nur unangemessen, sondern sie würde die Katastrophe zu einer beschreib- und damit erklärbaren Tatsache machen und sie dadurch aller Dramatik entkleiden.
Die verzögerten Reaktionen der Katholischen Kirche, der EKD und einiger Auroren waren dann eher vorsichtig und insgesamt vorhersehbar. Die Verurteilung des terroristischen Überfalls der Hamas, das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und dessen Recht auf Verteidigung, sowie die Verurteilung jedweden Antisemitismus, waren ein Konsens, auf den viele sich einigen konnten. Dieser Konsens wandert aber durch die täglichen Wiederholungsschleifen in den Medien aus einem nicht zu fassenden Erschrecken aus und wird zu einer beschreib- und fassbaren Grenzziehung, hinter der sich eine Positionierung entwickelt, die sich ständig ihrer eigenen Richtigkeit vergewissert und eine gewisse moralische Überheblichkeit fördert. Sie kann diese Entwicklung nur hinter der Grenze nehmen, weil nur die Distanz aus der unfassbaren Katastrophe ein beschreibbares Ereignis macht. Doch kennt die Katastrophe und kennt das Drama keine „Über“heblichkeit, weil sie sich eben nicht über, sondern im Dickicht der unbeschreiblichen Ereignisse befindet. Was sich hier hinter der Grenze an Sicherheit und damit an sicheren Sprachmustern und Zuordnungen verbirgt, ist der Versuch die überflutende Katastrophe mittels der Benennung in Beherrschbarkeit zu überführen. Ungeregelte Katastrophen werden durch das begriffliche Erfassen in ein semantisches Regelwerk gepresst. Die Bedeutung der sprachlichen Zeichen soll die Sache, die Situation und auch die Katastrophe aus der ungeregelten Eruption in regelgeleitete Abfolgen überführen. Dann aber „wird die Praxis (das, was da gerade geschieht) dazu verurteilt nur mehr ein Objekt zu sein“ (Michel des Certeau: Glaubensschwachheit) und nicht mehr selbst agierendes Subjekt, das die Sprache dazu zwingt, sich an neuen Orten jeweils neu zu erfinden. Nur hinter den Verschanzungen der Grenze kann und darf weiter die Sprache des Fassbaren und der regelgeleiteten Beherrschbarkeit gesprochen werden. Die Sprache wird so selbst zu einem begrenzenden Element, weil sie nicht mehr der Praxis folgt und sich ständig neu erfinden muss, sondern die Sprache geht dem begrifflichen Erfassen voraus geht und schreibt der Praxis einen Objektstatus zu.
Wer sich nun an aber dennoch an die Grenze wagt oder sie gar überschreitet, wer also einen Ortswechsel in die Katastrophe vornimmt, kann und muss eine neue Sprache finden, weil die alten Worte das Geschehen nicht mehr fassen. Er/sie gerät in das dauerhafte Risiko, als Grenzverletzer/In miss-verstanden zu werden, der/die den Kanon der sicheren Zuschreibungen verlassen hat. Ortswechsel und Sprachwechsel gehören zusammen. Vor der Grenze wird sicht- und hörbar, was es heißt, auf die großen linearen Erklärungen zu verzichten, die die Opfer zweimal leiden lassen. Einmal das Leiden an dem Morden und Zerstören und ein andermal der Reduzierung auf beschreib- und zählbare Objekte. Vor der Grenze schreien, weinen und verzweifeln ermordete und gedemütigte Subjekte, die nicht über Opferkonkurrenzen und Zahlenvergleiche erniedrigt werden dürfen. Die Sicherheit des Kanons der Wissenden wird von den Toten und den Opfern untergraben und erzwingen eine Sprache, die sich zuerst auf das Schweigen stützt. Schweigen ist vor der Grenze, im Dickicht des Leidens, nicht die Abwesenheit von Sprache, sondern eines ihrer stärksten Ausdrucksmittel. „Sowohl Martin Heidegger als auch Ludwig Wittgenstein sprachen einer Form des Diskurses normativen Staus zu - dem Schweigen. (David Tracy: Theologie als Gespräch) Denn das Schweigen ist nicht defizitäres Ausbleiben, sondern ist eine starke Antwort auf den Schrecken in Nahost. Das Schweigen hebt das Leiden eben nicht auf, sondern unterstreicht es und ist (laut-starkes) Ausrufezeichen. Während sich die Sprache hinter der Grenze so ihre vermeintliche Unschuld bewahrt, weil sie „nur“ objektive Wirklichkeit sprachlich fasst, so verliert sie jenseits der Grenze ihre Unschuld, weil sie sich im Dickicht von Blut, Schmerz und Leiden neu erfinden muss.
Wer aber nach dem Schweigen, nach dem Ausrufezeichen, zu reden beginnt, redet leiser, vorsichtiger, vielleicht stammelnd oder taumelnd. Dies aber habe ich bei all den nachfolgenden Stellungsnahmen der Kirchen nicht gehört. Stattdessen laute und klare Bekenntnisformeln, überall Eindeutigkeit und eine leichte moralische Überheblichkeit, die dem Risiko taumelnder und nichteindeutiger Sprache ausweicht. Diese Risikominimierung hinter der Mauer von Eindeutigkeiten aber ist der vorwerfbare Teil dieser Haltung. Die Sprache hat im Angesicht des massenhaften Leidens ihre Unschuld endgültig verloren. Der Verlust der Unschuld aber führt nun geradewegs in ein Dilemma, das Christian Bauer genial zusammenfasst: „Es gibt keine (notwendige) Positionierung ohne irgendwie schuldig zu werden“ (Christian Bauer auf Facebook). Ortswechsel (hinter oder vor der Grenze) erzwingen zwar neue Sprachmuster, jedoch dispensieren diese nicht von der ebenfalls notwendigen schuldhaften Verstrickung.
Wer also, wie der bundesdeutsche Konsens, das Selbstverteidigungsrecht Israels unterstreicht, hat auch die Schuld ziviler Opfer auf sich geladen und wer wie Judith Butler in einer vieldiskutierten Stellungnahme sagt: „wenn die Schrecken der letzten Tage eine größere moralische Bedeutung hätten als die Schrecken der letzten siebzig Jahre, dann drohe die moralische Reaktion des Augenblicks das Verständnis für die radikalen Ungerechtigkeiten, die das besetzte Palästina und die gewaltsam vertriebenen Palästinenser erdulden müssen, zu verdrängen“, der/die lässt das einmalig Schreckliche im Großen der Geschichten verschwinden.
Christliche, oder besser, kirchliche Stellungnahmen müssten mehr die subversive Kraft des Uneindeutigen, die Revolte der Unterbrechung gegen die lineare Analyse der Objekte stärken und diese zu Gehör bringen. Sie müssten sich ganz im Sinne einer jesuanischen Haltung nicht „nur“ mit der Schuld der anderen beschäftigen (dies gewiss auch), sondern von dem ihnen biblisch zugewiesenen Standort, mitten und nicht über dem Leid, die eigene Schuldbeladenheit zum Ausgangspunkt jedes Gesprächs mit den anderen machen. Schuldlose und wissende Konfliktbeteiligte kommen über ein „Entweder-Oder“ nicht hinaus; bürgerliche Bequemlichkeit bleibt in einem „Sowohl als Auch“ hängen. Michel des Certeau hat Recht! Es muss ein Drittes geben, ein „Weder-Noch“, welches die binären Oppositionen überwindet und sich als quasi „Hineingeworfenes“ (J.P. Sartre) im Draußen neu erfinden muss.
Hierbei darf aber das Risiko nicht gemieden, sondern muss als elementare Grundierung christlicher Existenz ausgehalten werden. Christliche Existenz ist suchende Existenz, die das Risiko des Verfehlens in sich trägt und nur dadurch aufgehoben wird, dass wir am Ende gefunden werden.
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